Der Bahnhof, in dem keine Züge halten
Am Zechmannhof der Familie Stocker erwartet Gäste nicht die herannahende Eisenbahn, wenn sie den hauseigenen „Bahnhof“ betreten. Hier beginnen und enden die Fahrten mit den Pferdeschlitten, die von Opa Johann, Vater Harald und Sohn Matthias durch die verschneite Ramsau gelenkt werden. Diesen „Bahnhof“, in dem täglich Pferdeschlittenfahrten starten, sehe ich mir heute einmal genauer an.
Pferdeschlittenfahrten ab dem Zechmannhof
Kurz bevor die Straße sich in zahlreichen Windungen den Berg hinab von Ramsau nach Schladming schlängelt, biege ich rechts nach Vorberg ab. Vorbei an Wiesen, Wäldern und traditionsreichen Bauernhäusern gelange ich schließlich zum Zechmannhof. Im 13. Jahrhundert erstmals erwähnt, umfasst das Anwesen ein Bauernhaus mit Gästezimmern sowie Nebengebäude, Koppeln und eine Reithalle. Wie letzteres schon vermuten lässt, widmet man sich hier der Pferdezucht. Spezialisiert hat sich die Familie Stocker auf die Rassen Noriker, Lipizzaner und Haflinger. Nicht nur beritten kommen die edlen Rösser zum Einsatz, sie ziehen auch Kutschen und Schlitten.
Im sogenannten „Bahnhof“, einem Nebengebäude hinter dem Bauernhaus, ist Harald Stocker gerade dabei, zwei Pferde vor einen Schlitten zu spannen. Genau genommen ist dieser Schlitten eine Kutsche. Denn noch steht das Gefährt auf Rädern. Erst wenn Harald mit dem offenen Achtsitzer den Hof verlassen und den angrenzenden Schlittenweg erreicht hat, erfolgt der hydraulische Wechsel von Rädern auf Kufen.
Nicht ohne Odessa
Gäste können täglich zwischen zwei Schlittenrouten wählen: Die Fahrt zur Halseralm und die Kulmbergrunde, die Harald bereits in Kürze antritt. Rund drei Stunden wird er mit seinen Gästen unterwegs sein – die Rast in einem Gasthaus mit einbezogen. „Ich weiß noch nicht, wo ich heute einkehren soll. Möglichkeiten gibt es viele. Vielleicht nehmen mir ja die Gäste diese Entscheidung ab“, lacht Harald, der von Glockengebimmel unterbrochen wird. Sein Vater Johann fährt mit einem voll besetzten Schlitten in den „Bahnhof“ ein. Der Kutscher bringt das Gespann zum Stehen und acht Personen steigen aus. Die Pferdeschlittenfahrt scheint gefallen zu haben, denn das Lob der Gäste fällt üppig aus. Während Johann sich verabschiedet, bleibt seine Beifahrerin Odessa gelassen auf dem Kutschbock sitzen. Erst als die Gruppe den Schlittenbahnhof verlässt, bequemt sie sich herunterzuspringen und begrüßt mich mit einem kurzen Bellen. Johann und seine Gordon Setter-Hündin sind ein unzertrennliches Duo, das man nur gemeinsam auf dem Schlitten sitzen sieht, denn „ohne meinen Hund fahre ich keinen Meter“, betont er.
Wenn zwei im Einklang gehen
Bereits seit 43 Jahren ist Johann Stocker Kutscher. „Das Gespann harmonisch zu führen, ist die große Kunst des Fahrers“, sagt er. Und das klingt einfacher, als es ist. Denn die beiden Pferde, die heute Johann Stockers Schlitten gezogen haben, könnten unterschiedlicher nicht sein. Maximus, der fünfzehnjährige Rappe, arbeitet schon lange als Kutschenpferd. Er ist ein fleißiges und starkes Ross. Der Zweite im Bunde heißt Franziskus. Der vierjährige Mohrenkopf – eine spezielle Farbzüchtung eines Norikers – macht lieber Dienst nach Vorschrift. „Obwohl er ein Rennpferd ist, muss ich ihn immer wieder antippen und ans Ziehen erinnern“, erzählt der Kutscher, während er einige Wolldecken aus dem Schlitten angelt.
Oben ohne durch den Winter
„Wir versorgen die Fahrgäste mit warmen Decken, in die sie sich einkuscheln können“, erklärt Johann Stocker. Denn auch bei Minustemperaturen sind die Pferdeschlitten vom Zechmannhof ohne Verdeck unterwegs – und das bei jedem Wetter. Zu stören scheint es die Gäste nicht. Ganz im Gegenteil. „Gerade eine Fahrt bei Schneefall ist besonders beliebt“, weiß Johann. Auch wenn es vielerorts anders gehandhabt wird, in Ramsau am Dachstein ist es jedenfalls Tradition, im Winter ohne Dach zu fahren. Und dass Traditionen am Zechmannhof hoch gehalten werden, erkennt man auch an der Kleidung der Kutscher. Mäntel und Hosen sind aus original Schladminger Loden gefertigt. „Das hat Stil und wir legen großen Wert darauf, dass wir sauber beieinander sind“, wirft Harald Stocker ein, bevor er mit seinem Achtsitzer aus dem Schlittenbahnhof fährt und sich zur Nachmittagstour aufmacht.
Eine Schlittenfahrt durch die Nacht
Neben Ausflügen am Tag bieten die Pferdeherren vom Zechmannhof auch abends eine Schlittenfahrt an. Für die Abfahrt nutzen sie die letzten Strahlen der untergehenden Wintersonne. Bei der Ankunft auf der Alm ist es meist schon dunkel. Dann leuchtet das flackernde Kerzenlicht einladend aus den Fenstern der Gaststuben. Hier wärmen sich die Mitfahrenden auf, schmausen Kaiserschmarrn und Eierspeis. Doch mag das Zusammensitzen in der gemütlichen Stube noch so vergnüglich sein, um zehn Uhr abends haben die Pferde Dienstschluss. „Da nehmen wir schon auf die Tiere Rücksicht, schließlich müssen sie am nächsten Tag wieder arbeiten. Und das verstehen unsere Gäste auch“, sagt Johann Stocker. Sowieso sollte man die Rückfahrt nicht all zu lange hinausschieben. Schließlich ist sie der Höhepunkt der nächtlichen Schlittenfahrt. Da hebt sich das funkelnde Sternenmeer eindrucksvoll vom tiefschwarzen Himmel ab, der sich über die weiß verschneiten Berge von Ramsau am Dachstein breitet. Ein Erlebnis, das man nicht alle Tage geboten bekommt. Diese einzigartigen Momente machen sich vermehrt auch Marketingprofis und Firmenchefs zu Nutze. Nicht selten dienen die Schlittenfahrten als Firmenveranstaltung oder Kundenevent. „Einmal waren wir mit hundertsechzig Leuten unterwegs. Aber das ist eine Ausnahme“, erzählt der Kutscher.
Heute Abend wird nur ein einziger Schlitten den Bahnhof am Zechmannhof verlassen. Dann werden die mit Samt bezogenen Bänke des Achtsitzers von einer bunt zusammengestellten Gruppe aus Touristen und Einheimischen besetzt sein. Und wer weiß, vielleicht hält genau diese Ausfahrt einen ganz besonderen Höhepunkt bereit. Denn auch Heiratsanträge soll es schon während einer Schlittenfahrt gegeben haben. „Ja, ja. Als Kutscher erlebt man eben so einiges“, lacht Johann. Somit darf man wohl gespannt sein, ob es auch heute Abend eine schöne Überraschung geben wird.